Ein Geschichte von Werner Schmidli aus meinem 5. Klasse Lesebuch, die mich bis heute begleitet

Der Vater schob den Teller zurück, erhob sich, stellte den Stuhl unter den Tisch und wischte sich den Mund. In seiner ganzen Grösse stand der Vater da: Knochig, bleich, die linke Schulter leicht nach unten gezogen, und er sah auf den Jungen, dann auf seine Frau und lächelte zufrieden. «Es ist Zeit, dass ich gehe», sagte er. Aber er blieb stehen und sah auf den Jungen, der den Löffel auf den Tisch legte und seine grossen blauen, tiefen Augen fest auf den Vater richtete und sagte: «Wir gehen morgen fischen, ja? Du hast es mir versprochen!» «Ja», antwortete der Vater, «ich hab' es dir versprochen, wir gehen. Sehr früh wollen wir gehen.» Der Junge ass nicht weiter. Er sah seinem Vater nach, wie er die abgeschabte, fleckige Jacke vom Haken nahm und anzog, die blaue Baskenmütze aufsetzte und den Gürtel enger schnallte. Die Mutter schwieg und stellte das Geschirr zusammen. «Die Fischrute?» rief der Vater von der Küche her. «In meinem Zimmer», sagte der Junge. «Und die Haken?» «Die hab' ich schon befestigt.» Der Junge stand schnell vom Tisch auf und wollte in sein Zimmer, um die Haken zu holen, aber die Mutter hielt ihn am Ärmel zurück. «Vater muss jetzt gehen», sagte sie ruhig. «Zeig sie ihm morgen, ja!» Der Junge setzte sich enttäuscht wieder hin. Der Vater zwinkerte mit einem Auge und lachte. Dann prüfte er nochmals, ob die Mütze richtig auf dem Kopfe sitze, und wandte sich zur Tür. «Träum von den grossen Fischen, die du mit deiner Angel fangen wirst!» rief er noch fröhlich über die Schulter. Dann ging er. Dem Jungen erschien die Wohnung leer, als der Vater weg war. Die Mutter trug das Geschirr in die Küche. Es war feuchtwarm im Zimmer, und der Junge öffnete das Fenster. An einem Tannenast hing der Mond wie ein Lampion, und die Sterne funkelten. Und weit, ganz weit, so schien es dem Jungen, musste die Eisenbahnlinie sein. Kalte, blanke und glänzende Schienen, über die Vater den Zug E 417 führen würde. Jeden Tag die gleiche Strecke nur morgen einmal nicht. Denn morgen wird Vater mit ihm fischen kommen. Und der Junge dachte an die Angelrute und die Haken und rannte in sein Zimmer. Aber die Stimme seiner Mutter rief ihn in die Küche. «Hilfst du mir nicht abtrocknen?» fragte sie. «Ja», sagte der Junge und dachte: Ich werde jeden Tag abtrocknen. Mutter hat mir die Angelrute gekauft. Die Mutter trat ins Zimmer und stellte die Angelrute vom Bett weg, in eine Ecke. Rot und weiss leuchteten die Schnürungen um die Ringe. Dann setzte sie sich zum Jungen, nahm die schmalen kleinen Hände zwischen die ihren und faltete sie. Der Junge betete mit leiser Stimme, und die Mutter schloss die Augen und sprach im Stillen das Gebet mit. Aber die offenen, grossen Augen des Jungen irrten wieder zur Rute ab, und er betete nur noch mechanisch. Mit den Gedanken war er weit weg, weit voraus: am stillen Fluss, in der warmen Sonne, die Rute in der Hand, die Augen aufs ruhige Wasser gerichtet, wo der Schwimmer aufrecht von der Strömung weggetragen wurde, und die herrliche, köstliche Spannung in sich, ob einer anbeisst…. Er selbst merkte nicht, dass er nicht mehr betete, mittendrin aufgehört hatte und dass seine Augen unverwandt auf der Angel ruhten und glücklich leuchteten.
Der Vater traf bei der Plakatwand Fred, den Zweiten von E 417, und sie gingen stumm durch die lärmende, rauchige, reklameleuchtende Stadt zum Bahnhof. Sie sprachen kein Wort. Erst als der Vater die schmalen Sprossen der Lokomotive hinaufkletterte und auf der Plattform mit geschlossenen Augen einen Atemzug stehenblieb, sagte Fred: «Morgen ist Kegelnachmittag, kommst du?» Der Vater schwieg. Auch Fred kletterte hinauf, packte seinen Kameraden kräftig an der Schulter und sah ihn ängstlich und erschrocken an. «He», sagte er, «ist dir nicht gut? Du bist ganz bleich.» Der Angesprochene nahm die Mütze ab und wischte mit dem Taschentuch über Stirn und Nacken; dann setzte er die Mütze wieder auf. Er sah müde aus, und seine linke Schulter hing noch schiefer nach unten als sonst. «Es ist nichts!» sagte er dann und richtete sich auf.

Die Mutter sass am Küchentisch, und der Junge wusch sich das Gesicht am Spültisch. «Jetzt wird Vater gleich abfahren», sagte der Junge. Die Mutter nickte, legte die Näharbeit auf die Seite und trat zum offenen Fenster. Der Junge folgte ihr. «Wenn ich gross bin», sagte er, «möchte ich so sein wie Vater und eine mächtige Lok fahren.» Er schaute mit glänzenden Augen in die Nacht, durch das schwere, lichtdurchsetzte Dunkel, und sah sich die Leiter zur Lok hinaufklettern. Aber da sagte die Mutter leise: «Nein, ich will es nicht, hörst du!".

«Ich komme morgen nicht», sagte der Vater. «Gehe mit dem Jungen fischen.» Sie fuhren aus dem schmutzigen, trostlosen Bahnhof hinaus und liessen die Stadt hinter sich. Der Zug rollte am Kilometerstein 107 vorbei, liess die lange, bläuliche Fabrik hinter sich und fuhr der Zweigstelle FW 3 zu. Fred schnitt ein bekümmertes Gesicht. «Elend siehst du aus!» sagte er. Der Vater nickte abwesend.

«Da! Hörst du?» fragte der Junge. Die Mutter lächelte und drückte den Jungen an sich. Sie hörten beide das ferne Geräusch des Zuges. Näher und näher kam es, und dann sahen sie die leuchtende, gelb-weisse Schlange in ihrer ganzen Länge draussen in der Nacht vorbeifahren. Manchmal verschwand sie, tauchte dann wieder auf, kleiner schon, entfernter. Die Lokomotive stiess einen schrillen Schrei aus, dann noch einen, und der Junge und die Mutter sahen einander an. «Das ist Vater!» sagte er stolz.

Als Fred wieder auf die Linie sah, nicht weit entfernt von der Zweigstelle FW 3, zuckte er erschrocken zusammen, starrte mit aufgerissenen Augen und offenem Mund aus dem Fenster. „Mein Gott!“ schrie er. „Der Gegenzug, die Weiche…!“ Er drehte sich zu seinem Freund um, der auch den Zug auf ihrem Geleise entgegenkommen sah. «Bremsen!» schrien sie fast gleichzeitig. Es gelang dem Vater noch, die Schnellbremsung einzuleiten. Aber es war schon zu spät. Kreischen, Krachen, Funkensprühen, zersplittertes Glas und der Vater spürte einen kräftigen Schlag, einen durchdringenden Schmerz in der Brust, der sich über den Hals bis zum Kopf weiter frass, dann nichts mehr. Die blaue Baskenmütze hing zwischen dem linken verbogenen Fensterbalken und einem zerfetzten und hochgehobenen Blechstück.

Die Mutter sah es, sie verstand ihn, und sie sagte: «Schlaf jetzt, morgen ist dein grosser Tag!» Und sie löschte das Licht und verliess das Zimmer, Doch bevor der Junge einschlief, stand er noch einmal auf, schlich zur Ecke und streichelte den glatten Bambus, befühlte die kalten Metallringe und prüfte das Gewicht der Angel. Dann erst konnte er einschlafen.